VERMEIDBARE TODESFÄLLE
USA landen auf dem letzten Platz
Michael Moore hat in seinem Film
"Sicko" erschreckende Mängel des US-Gesundheitssystems aufgezeigt.
Forscher haben dies mit Zahlen belegt. Sie verglichen bei 19 Industrienationen
die vermeidbaren Todesfälle. Eindeutiges Schlusslicht: die USA. Aber auch
Deutschland landete auf den hinteren Plätzen.
Ob Blinddarmentzündung, Bluthochdruck, Darmkrebs oder Tuberkulose -
viele Krankheiten müssen nicht mehr zwangsläufig zum Tod führen. Vorausgesetzt,
sie werden rechtzeitig erkannt und richtig behandelt. Doch in der reichen
Industrienation USA ist dies offensichtlich keine Selbstverständlichkeit.
DDP
Gesundheitsversorgung:
In den USA besonders schlecht
Ellen Nolte und Martin McKee von der
London School of Hygiene and Tropical Medicine haben im Auftrag des
Commonwealth Funds die Raten von solchen Todesfällen untersucht, die man mit
den medizinischen Methoden eines leistungsfähigen Gesundheitssystems hätte verhindern
können. Die Wissenschaftler verglichen die Todesraten von insgesamt 19
Industrienationen: den USA, Kanada, Australien, Neuseeland, Japan sowie 14
europäischen Staaten. Die Studie wurde in der
aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Health Affairs" veröffentlicht.
Nolte und McKee schauten sich zwei
Zeiträume an: Wie groß waren die Raten vermeidbarer Todesfälle 1997/1998 und
wie hoch 2002/2003? Das Ergebnis: Die Länder hatten in diesen fünf Jahren ihre
Todesraten um durchschnittlich 16 Prozent senken können - allein die USA
brachten es auf lediglich vier Prozent.
ZUM
THEMA IM INTERNET
·
Vollständiges Ranking
aller 19 Staaten
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"Alle anderen Länder haben sich
merklich verbessert - außer den USA", sagte die Leiterin der Untersuchung,
Ellen Nolte. Es falle in diesem Zusammenhang schwer, nicht darauf hinzuweisen,
dass diese Beobachtung mit der Entwicklung zusammentreffe, dass immer mehr
US-Bürger keine Krankenversicherung besäßen. Im Ranking der vermeidbaren
Todesfälle pro Jahr und 100.000 Einwohner lagen die USA im Zeitraum 1997/1999
noch auf Platz 15 der 19 Staaten. 2002/2003 fielen sie auf den letzten Platz:
So betrug die Zahl der vermeidbaren Todesfälle in diesem Zeitraum pro 100.000 Einwohner
in Frankreich 64, in Japan und Australien jeweils 71 - in den USA hingegen lag
sie bei 109. Ein deutlicher letzter Platz. Auch Deutschland hat keinen Grund
stolz zu sein: Es belegte mit 90 vermeidbaren Todesfällen pro 100.000
Einwohnern in dem Ranking lediglich Platz 12.
In absoluten Zahlen bedeute dies nach
Berechnung der Autoren: 101.000 Todesfälle wären 2002/2003 in den USA
vermeidbar gewesen, wenn die USA ein genauso gutes Gesundheitssystem wie
Frankreich, Japan und Australien hätten.
lub
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Measuring
the Health of Nations: Updating an Earlier Analysis
January 8, 2008 |
Volume 98
Authors: Ellen Nolte, Ph.D., and C.
Martin McKee, M.D., D.Sc.
Contact:
ellen.nolte@lshtm.ac.uk
Summary Writer(s): Deborah
Lorber
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In the Literature
In a Commonwealth Fund-supported study
comparing preventable deaths in 19 industrialized countries, researchers found
that the United States placed last. While the other nations improved
dramatically between the two study periods—1997–98 and 2002–03—the U.S. improved
only slightly on the measure.
In "Measuring
the Health of Nations: Updating an Earlier Analysis" (Health
Affairs, Jan./Feb. 2008), Ellen Nolte, Ph.D., and C. Martin McKee, M.D.,
D.Sc., both of the London School of Hygiene and Tropical Medicine, compared
international rates of "amenable mortality"—that is, deaths from
certain causes before age 75 that are potentially preventable with timely and
effective health care. In addition to the U.S., the study included 14 Western
European countries, Canada, Australia, New Zealand, and Japan. According to the
authors, if the U.S. had been able reduce amenable mortality to the average
rate achieved by the three top-performing countries, there would have been
101,000 fewer deaths annually by the end of the study period.
The concept of amenable mortality was
developed in the 1970s to assess the quality and performance of health systems
and to track changes over time. For this study, the researchers used data from
the World Health Organization on deaths from conditions considered amenable to
health care, such as treatable cancers, diabetes, and cardiovascular disease.
U.S. Ranks Last
Between 1997–98 and 2002–03, amenable
mortality fell by an average of 16 percent in all countries except the U.S.,
where the decline was only 4 percent. In 1997–98, the U.S. ranked 15th out of
the 19 countries on this measure—ahead of only Finland, Portugal, the United
Kingdom, and Ireland—with a rate of 114.7 deaths per 100,000 people. By
2002–03, the U.S. fell to last place, with 109.7 per 100,000. In the leading
countries, mortality rates per 100,000 people were 64.8 in France, 71.2 in
Japan, and 71.3 in Australia.
The largest reductions in amenable
mortality were seen in countries with the highest initial levels, including
Portugal, Finland, Ireland, and the U.K, but also in some higher-performing
countries, like Australia and Italy. In contrast, the U.S. started from a
relatively high level of amenable mortality but experienced smaller reductions.
Many Lives in U.S. Could Be Saved
The researchers estimated the number of
lives that could have been saved in 2002 if the U.S. had achieved either the
average of all countries analyzed (except the U.S.) or the average of the three
top-performing countries. Using this formula, the authors estimated that
approximately 75,000 to 101,00 preventable deaths could be averted in the U.S.
"[E]ven the more conservative estimate of 75,000 deaths is almost twice
the Institute of Medicine's (lower) estimate of the number of deaths
attributable to medical errors in the United States each year," the
authors say.
Future Implications
The rate of
amenable mortality is a valuable indicator of health care performance, say the
authors—one that can point to potential weaknesses in a nation's health system
that require attention. "[T]he findings presented here are consistent with
other cross-national analyses, demonstrating the relative underperformance of
the U.S. health care system in several key indicators compared with other
industrialized countries," they say.
CitationE. Nolte and C. M. McKee, Measuring the
Health of Nations: Updating an Earlier Analysis, Health
Affairs, January/February 2008, 27(1):58–71
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MICHAEL MOORES "SICKO
Krank vor Routine
Von Birgit Glombitza
Der Robin Hood des US-Kinos tritt mit
seiner neuen Dokumentation "Sicko" gegen das amerikanische
Gesundheitswesen an. Leider schwächelt der Film ausgerechnet bei der
Hauptrolle, gespielt von: Michael Moore.
Dieser Mann zieht jedes Mal in die Schlacht, und seine Kamera, die im
schnellen Verfolgerschritt mitwippt, fungiert als Waffe. Es gibt keine
Kadrierungen, keine vorgedachten Schnitte, nur die Ereignisse selbst. Und das
wichtigste Ereignis ist meist: Michael Moore und sein Marsch gegen die
Instanzen.
"SICKO":
SCHWÄCHELNDER STAR-DOKUMENTARIST
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Bilder)
Im Grunde variiert Moore stets aufs neue die Methode des Direct Cinema, die er
bei seinem ersten abendfüllenden Dokumentarfilm "Roger and Me" (1989)
wiederentdeckt hat, und die sich streng genommen aus der Logistik des
dokumentarischen Kriegsfilms ableitet. Diese inszenierte Unmittelbarkeit, dazu
die spekulativ sarkastischen Bilderketten, die man schon aus dem Polit-Doku-Kino
der achtziger Jahre, etwa von Filmen wie "The Atomic Cafe" (1982)
kennt, und der joviale Redefluss eines sich selbst ins Bild rückenden
Meinungsmassivs sind die augenfälligsten Zutaten seiner Dokumentarfilme.
In ihren Erfolgen überbieten sie sich
gegenseitig; Kinogeschichte haben sie schon jetzt geschrieben. Und dennoch
zieht der 53-Jährige, mit seinem Bush-Bashing, seinem kritischen Patriotismus
und seiner jeweils neuesten Publikation, - auf dem Buchmarkt ist er inzwischen
ebenso erfolgreich - durchs Land wie ein Wanderprediger.
Ungesunder Narzissmus
Man mag Moore vieles vorwerfen. Dass ihn
eine womöglich dürre Wahrheit manchmal weniger interessiert als eine saftige
Verschwörungstheorie. Dass er populistisch und manipulativ genau das bebildere,
was er schon vor dem Film zu wissen glaubte. Dass sein lärmendes Auftreten
langsam die Züge eines Personenkults annehme. Oder, wie die Kanadier Debbie
Melink und Rick Caine es in ihrem Dekonstruktionsversuch "Manufacturing
Dissent" (2007) behaupten, dass Moores Filme Ausdruck seiner narzisstisch
gestörten Persönlichkeit seien.
VIDEOS ZUM FILM
Foto:
Senator/Central
Sicko
Trailer und Ausschnitte
·
Filmausschnitt: Nicht lebensbedrohlich
·
Filmausschnitt: Nicht erforscht
·
Filmausschnitt: Gleiche Behandlung wie al- Qaida
·
Filmausschnitt: Kubanische Apotheke
Und sicherlich gehören die Moorschen Werke
nicht zu den Meilensteinen innovativer Filmästhetik. Aber wie man es auch dreht
und wendet, man kommt um den Kosmos des Michael Moore, seine fröhlichen
Zuspitzungen, seine maßlosen Übertreibungen und dennoch immer anrührenden
Begegnungen nicht herum.
Moores Filme sind feurige Verteidigungen
der kleinen Leute, der Arbeiter, der Arbeitslosen, der Kranken und ihrer Rechte
vor einer Politik, die sie längst vergessen hat. Für sie bringt er seine
Geschütze in Stellung vor den Bastionen der Großen, der Konzerne wie General
Motors in "Roger and Me", der Waffenlobby in "Bowling for
Columbine" (2002), der Bush-Regierung in "Fahrenheit 9/11"
(2004) und der Krankenversicherungen in "Sicko", der diese Woche in
den deutschen Kinos anläuft.
Filmische Opferbehandlung
Strenggenommen stürmt der Berserker des
Dokumentarfilms, wie ihn die cineastische Hochkultur wohl am liebsten
beschreiben würde, diesmal nicht die Festungen der Mächtigen selbst, sondern
schart Opfer des amerikanischen Gesundheitssystem um sich, um in energisch bis
demonstrativ absurden Aktionen ihre medizinische Versorgung einzufordern.
Da gibt es Adam, den wir gleich zu Anfang
dabei beobachten, wie er sich eine klaffende Fleischwunde am Bein beherzt
selbst zunäht. Oder Rick, "der Romantiker", der zwei Finger verlor
und nun wählen muss, ob er sich den Ringfinger für 12.000 oder den Mittelfinger
für 60.0000 Dollar annähen lässt. Er entscheidet sich, ganz
"romantisch", für den kostengünstigeren Ringfinger.
SICKO
(USA 2007)
Regie:
Michael Moore
Buch: Michael Moore
Darsteller: Michael Moore
Produktion: Dog Eat Dog Films
Verleih: Senator
Länge: 113 Minuten
Start: 11. Oktober 2007
Offizielle Website
Dann ist da eine junge Frau, die ihren
Nottransport selber zahlen muss, weil sie eine bestimmte Genehmigung nicht
eingeholt habe. Dass sie sich zum Zeitpunkt ihres Versäumnisses gerade in
tiefster Ohnmacht befand, interessiert ihre Versicherung nicht. Eine Mutter
verliert ihr fieberndes Kind auf dem Weg von dem einen Krankenhaus, das die
Aufnahme aus versicherungstechnischen Gründen ablehnte, zu einem anderen, das
nur noch den Tod der Kleinen feststellen kann. Moore stellt uns Krebskranke
vor, denen lebensverlängernde Therapien nicht genehmigt werden; Asthmakranke,
die ihre Sprays nicht länger bezahlen können.
Überwachungsbilder zeigen, wie
Krankenhäuser mittellose Patienten unbehandelt und im dünnen Hemdchen auf der
Strasse aussetzen, damit sie keine teuren Betten blockieren. Und ehemalige
Versicherungsangestellte berichten von Prämien, die sie oder auch die Ärzte
einstreichen, wenn sie kostenintensive Therapien ablehnen.
Krankes System
Das amerikanische Gesundheitssystem, das
teuerste, uneffektivste auf dem Globus, ist ein menschenverachtendes Desaster.
Die Lebenserwartung eines Amerikaners ist geringer als die der Menschen anderer
Industriestaaten. Die Kindersterblichkeit nähert sich bedenklich der Rate
mancher Entwicklungsländer. Und wer überhaupt das Glück hat, von einer
Versicherung aufgenommen zu werden, kann sich nicht sicher sein, ob sie auch
zahlt oder ihre Klientel knallhart in den Bankrott treibt.
Das ist unfassbar, empörend, berührend -
aber polarisierend ist es diesmal nicht. Anders als sonst begleitet keine
Kontroverse den Film, kein Verleih bekommt hier kalte Füße. Und der Wind, der
Moore ins Gesicht bläst, ist nur jener vor der Küste Guantanamos, wo er mit
einem Trupp Kranker um kostenlose Behandlung bittet. Schließlich werbe die
Führung des Lagers damit, dass hier alle Gefangenen ärztlich versorgt würden.
Ein Krankenhaus in Havanna nimmt sich
schließlich ihrer an, bringt die teuersten Geräte für die vernachlässigten
Amerikaner in Stellung und genießt deren Dankbarkeit in vollen Zügen. Dass
Moore und seine Gefährten in diesen Momenten Teil einer anderen
Propagandamaschine werden, ist ihnen ziemlich schnurz.
Die Reise zum Feind nach Kuba wird Folgen
haben. Moore hat das US-amerikanische Handelsembargo verletzt, ihm droht nun
ein Prozess. Doch auch darüber wird es sicher bald einen Film, ein Buch oder
eine Bühnenshow geben.